Olga Masur hat das Schweigen gebrochen. Sie schwankt zwischen bebender Betroffenheit und cooler Erkenntnis. Noch weiss sie nicht, ob sie es überleben wird.
von ALICE SCHWARZER
"Es war ein äußerst begrenzter Kosmos, in dem sich die Emotionen und Aggressionen stauten, die ständig unterschwellig brodelten. Die Anwesenheit meines Vaters war wie ein Zementdeckel, der sich über das Haus schob, sobald er die Auffahrt hochfuhr", schreibt sie. "Nur wenn er nicht da war, war es möglich, unten im Wohnzimmer zu bleiben, ohne durch seine aggressive Ausstrahlung verpestet zu werden. Die gesamten Abläufe orientierten sich an ihm - aus purem Sicherheitsbedürfnis. Das ging so weit, daß meine Mutter manchmal schon an der Tür flüsterte: Er ist da. Mehr tat sie nicht. Immerhin hat sie die Scheidung eingereicht. " Diese Scheidung hat die Mutter spät eingereicht, zu spät. Beide Töchter nahmen schweren Schaden an Leib und Seele. Doch eine hat nun das getan, was der Vater mit dem schwersten Verbot belegt hatte: Sie hat das Schweigen gebrochen. Die heute 29jährige Olga Masur hat über 366 Seiten minutiös die Hölle ihrer Kindheit in der Drei-Zimmer-Wohnung im schwäbischen Reihenhaus beschrieben. Die allgegenwärtige Gewalttätigkeit des Vaters, das Wegschauen, ja Mitmachen der Mutter, die Einsamkeit des Opfers und die Schizophrenie zwischen der häuslichen Hölle und der außerhäuslichen Normalität: Wie so viele Familientyrannen war auch Olgas Vater draußen als besonders "netter Mann" bekannt. Die zugezogene Rußlanddeutsche Olga Masur schafft es, aus der Folterzelle auszubrechen. Sie lernt und studiert, sie entgeht dennoch nicht allen inzwischen als klassisch bekannten Symptomen: Sie hat Migräne und Panikattacken, sie verfällt der Freß- und Magersucht, sie verstümmelt sich selbst. Sie braucht lange, bis sie, hinter dem alltäglichen Schrecken, das ganze Grauen erblickt: Der Vater hat das Mädchen über Jahre sexuell mißbraucht, die Mutter hat mitgemacht. "Das Licht spiegelt sich in kleinen Seen auf dem Linoleumfußboden wieder, auf dem mir meine Mutter entgegenkam. Ich war entsetzt, ich hatte gedacht, ich sei sie endlich los. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch keine drei Jahre alt und bereits seit rund zwei Jahren regelmäßig sexueller Gewalt durch meine Eltern ausgesetzt." Die Erinnerungen an ihr Ausgeliefertsein bringen Olga Masur fast um. Sie macht Therapien, ändert ihren Namen, sucht die Wahrheit. Sie schreibt ihre Geschichte auf - eine Geschichte, in der sich viele wiedererkennen werden. Denn wir müssen heute davon ausgehen, daß mindestens jede Dritte Opfer frühen sexuellen Mißbrauchs ist - und weit größer ist die Zahl der Kinder, die der Willkür seelischer oder körperlicher Gewalt in der Familienhölle ausgesetzt sind. Olga Masur, die zwischen bebender Betroffenheit und cooler Erkenntnis schwankt, vertraut nicht ihrer Geschichte allein. Sie baut ein Korsett aus Zitaten und Zahlen drumherum, das ihrer Geschichte Halt gibt. Von Seite zu Seite hat sie immer wieder das Bedürfnis zu beweisen: Ich bin kein Einzelfall! Ich bin nicht schuld! Wir sind viele! Und die Täter haben Namen! Daß es der eigene "Vater" war, damit kann Olga bis heute nicht leben. Sie setzt ihn in Anführungsstriche und bezweifelt seine biologische Vaterschaft. Vielleicht war auch die Mutter Opfer? Opfer einer Vergewaltigung? "Ich wollt' ich wär' die Letzte", hat Olga Masur ihren Lebensbericht genannt. Sie wird es nicht sein. Aber ihr Zeugnis wird dazu beitragen, daß noch mehr Opfer nicht länger schweigen - und daß es den zynischen Verharmlosern sexueller Gewalt und Propagandisten vom "Mißbrauch des Mißbrauchs" nicht erlaubt wird, erneut das Gesetz des Vaters über die Opfer zu senken: Das Gesetz des Schweigens. (Das Buch hat nicht 366, sondern 399 Seiten. OM)
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