Sexuelle Gewalt in der Kindheit "Ich wollt' ich wär' die Letzte" Der dornenreiche Weg von Olga Masur/ Kinderjahre in Ebingen und Balingen von CRISTA ÜBLACKER (sb)
Zollernalbkreis. "Ich wollt' ich wär' die Letzte" betitelt Olga Masur den authentischen Bericht über die Vergewaltigungen in ihrer Kindheit - und die Zeit danach. Die heute 29-Jährige, die die für ihr weiteres Leben entscheidenden Phasen in Ebingen und Balingen erlebt hat, schrieb dieses Buch parallel zum Prozess vor dem Familiengericht in Hamburg gegen Beteiligte iher Familie. Er ist noch nicht entschieden. Fast 20 Jahre hat es gedauert, bis Olga Masur endlich Gewissheit erlangte, was mit ihr in frühester Kindheit passiert ist: Sie war ab dem ersten Lebensjahr der regelmäßigen sexuellen Ausbeutung durch ihre Eltern ausgesetzt. Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, die ihr ganzes Denken überlagerte, "da ist noch was", hat sich die junge Frau beinahe selbst zerstört: Hoffnungsphasen auf der Suche nach der Wahrheit wechselten ab mit der totalen Verzweiflung, dass so etwas geschehen konnte, und niemand ihr geholfen hat. Weder dem Kleinkind, um die Gewalt abzuwenden, noch bei der Suche nach der Wahrheit und den damit verbundenen Konsequenzen. Den dornenreichen Weg dorthin und seine Fortsetzung bis zum heutigen Tage erzählt die Autorin in der ihr eigenen, eindringlichen Sprache. Ohne Schnörkel, ohne Selbstmitleid, rechnet sie ab mit dem noch viel zu oft tabuisierten Thema der sexualisierten Gewalt, der Gewalt gegenüber Mädchen und Buben, und dem Wegschauen Wissender. Das Kind, später die junge Frau, lässt die Lerserinnen und Leser im Wortsinn "mit-leiden". Sie erzählt aus der Perspektive ihres jeweiligen Alters. Bei aller Ernsthaftigkeit des Themas gibt es auch heitere Stellen in dem Buch, das den Leser kaum innehalten lässt in der Frage: "Wie geht es weiter?" und sich fast so spannend wie ein Krimi liest. Olga Masur entpuppt sich dabei keineswegs als Männerhasserin - im Gegenteil. Und doch verschließt sie die Augen nicht vor der gesellschaftlichen Problematik, die das Thema der sexuellen Gewalt gegen Kinder erst möglich macht. An passender Stelle flicht sie statistisches Zahlenmaterial und wissenschaftliche Forschungsergebnisse in der Text ein, die den gesellschaftlichen Zusammenhang dieses Verbrechens klar aufzeigen. Das Buch hebt sich woltuend ab von reißerischen Varianten dieses Themas, die zunehmend auf den Markt drängen. Die Resonanz einer 14-Jährigen, die das Buch gelesen hat, legt davon beredtes Zeugnis ab: "Es hat mir Mut gemacht, mich durchzusetzen und mein Leben so zu führen, wie ich es für richtig halte." Und ihre Mutter bestätigte, dass sich das Verhalten ihrer Tochter positiv verändert hat. Wohl auch deshalb hat Jan-Philipp Reemtsma den Druck finanziert. Das Buch von Olga Masur ("Ich wollt' ich wär' die Letzte" - 400 Seiten) ist im örtlichen Buchhandel zum Preis von 48 Mark erhältlich.
Schonungslose Offenheit Seit drei Jahren wartet Olga Masur auf den Prozessentscheid
(cu) Die Autorin Olga Masur hat in ihrem authentischen Bericht die einzelnen Stationen in ihrem Leben offen und schonungslos aufgezeichnet. Wir sprachen mit ihr darüber. Schwarzwälder Bote: Sie haben sich entschlossen, ihr persönliches Schicksal und das damit verbundene Unrecht zu publizieren. Was gab den Ausschlag? Olga Masur: Der Grund, das Buch zu schreiben, steckt im Titel: "Ich wollt' ich wär' die Letzte, die litt.", den Ausschlag gab ein Prozess, den ich im Moment vor dem Hamburger Familiengericht gegen meinen Vater führe. Ich versuche darin, einen Punkt zu klären, der für mich sehr wichtig, um genau zu sein: lebenswichtig ist. Um die Spannung beim Lesen nicht zu nehmen, sage ich lieber nicht, worum genau es geht. Nur soviel: Einer meiner Verwandten weigert sich hartnäckig einen Test zu machen, und zwar mit der Begründung, dass dieser Test unbegründet sei und sowieso nur herauskäme, was er schon sagt. Also wäre der Test, wie er selbst sagt, vollkommen unproblematisch für ihn, trotzdem weigert er sich seit Jahren, ihn zu machen. Das soll verstehen wer will. Ich selbst habe nichts zu verlieren. Und angesichts des gesellschaftlichen Ausmaßes sexualisierter Gewalt gegen Kinder - und des Schweigens darüber - wollte ich auf jeden Fall jede Chance nutzen, Öffentlichkeit für dieses Thema zu bekommen. SchwaBo: Die Personen, die darin vorkommen, können relativ leicht identifiziert werden. Ist es nicht auch eine Abrechnung? Masur: Erstens wollte ich ja gerade deutlich machen, dass all dies jetzt und hier passiert, und zwar immer wieder und immer noch. Und da bietet es sich nicht gerade an, einen Bericht mit "Es war einmal in einem fernen Land ... " zu beginnen. Zweitens sehe ich es nicht als meine Aufgabe, mir Sorgen um Täter zu machen - oder gar sie zu schützen. Und Drittens ist der Gedanke an eine Abrechnung schon allein deswegen abwägig, als ich NIE in meinem ganzen Leben werde zurückzahlen können, was meine Eltern mir angetan haben - ich müsste sie unter identischen Bedinungen aufwachsen lassen. Und selbst wenn es möglich wäre: das wünsche ich niemandem. Fakt ist, dass Kinder, die sexualisierte Gewalt erlitten haben, "lebenslänglich" haben, während Täter sich über Verjährung freuen dürfen, wenn sie denn überhaupt entdeckt werden: Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat herausgefunden, dass nur sieben Prozent aller Fälle und nur etwa drei Prozent der Fälle innerfamiliärer sexueller Ausbeutung von Kindern bekannt werden. Und allenfalls jeder Hundertste kann mit einer Verurteilung rechnen.
SchwaBo: Wenn Sie nur ein Kind schützen können, hat es sich für Sie gelohnt. Könnten Sie daraus die Kraft für Ihr weiteres Leben gewinnen?
Masur: Für mich selbst ist im Moment die Frage nach dem Ausgang des Prozesses akut. Ich weiß nicht, ob und was er in mir auslösen wird. Ich kann nur sagen, dass die lange Dauer - ich versuche schon seit über drei Jahren, diesen Punkt zu klären - sehr belastend für mich ist und ich mittlerweile sogar befürchte, dass die Verschleppungstaktik meiner Verwandtschaft dazu führen könnte, dass mich auch ein entsprechend positives Ergebnis nicht mehr wird auffangen können. Aber insgesamt freue ich mich über jedes kleine Bisschen an Positivem, das dieses Buch für Kinder bringt. Und dass es auch für junge Mädchen geeigent ist und ihnen Mut macht, ihren Weg zu gehen, macht mich stolz.
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