Textauszüge |
(S. 9, a.a.O.) "Das Licht spiegelte sich in kleinen Seen auf dem Linoleumfußboden wider, auf dem mir meine Mutter entgegenkam. Ich war entsetzt, ich hatte gedacht, ich sei sie endlich los. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch keine drei Jahre alt und bereits seit rund zwei Jahren regelmässig sexueller Gewalt durch meine Eltern ausgesetzt. Bewußt im heutigen Sinn war mir das damals nicht, oder zumindest nicht immer - das Bewußtsein schafft sich Ebenen neben der Realität wenn diese unerträglich ist."
(S. 109-111 a.a.O.) "Bei all dem habe ich neben den Vorbereitungen fürs Abitur noch bei zwei Zeitungen gejobbt: als freie Mitarbeiterin für den Schwarzwälder boten und den Zoller-Alb-Kurier. Beim ersten Termin, den ich wahrnahm, hatten die Veranstalter ein großes Schild auf den reservierten Stuhl gelegt: „PRESSE“. Mein Platz! Dieses Schild habe ich noch jahrelang aufgehoben. Da war ich achtzehn. Um den sprichwörtlichen KaninchenzüchterInnenverein bin ich ganz herumgekommen. Mein Job war es, neben Lokalterminen, größtenteils Theaterkritiken zu schreiben. Dabei habe ich ungemein davon profitiert, dass Balingen eine reiche Stadt ist und eine sehr rührige Stadthallen- und Messeleitung hatte bzw. hat. Die Tourneekalender der Schauspiel-, Tanz- oder Ballettgruppen lasen sich nicht selten so: Madrid, Paris, London, Hamburg, Frankfurt, Balingen, Rom […] Der Job machte Spaß. Und Kerstin bemerkte schon nach den ersten Terminen: „Du blühst richtig auf.“ Bei einem Tanz-Event im Gymnasium habe ich – wo ich schon mal fürs Schreiben da war – für die TänzerInnen aus England übersetzt. Das war auch noch eine christliche Gruppe, so dass ich mich in die Lage versetzt sah, auf Englisch das Heil zu verkünden. Diese Worte über meine Lippen - Premiere und Showdown in einem! Am nächsten Tag kam ich zu spät. Es war eine Stunde bei einem älteren Französischlehrer, der an der Schule dafür bekannt war, dass er die allererste Französischstunde folgendermaßen einzuleiten pflegte: „Es gibt im Französischen drei Nasale: Äh, Äh und Äh!“ Er kam mit geöffneten Armen auf mich zu und erklärte. „Meine liebe Olga, ich habe nachher noch etwas für Sie. Aber setzen Sie sich erstmal.“ Die ganze Klasse grinste. Ich hasse so was! Ankündigungen, die dann nicht aufgelöst werden. Vor allem, wenn ich zu spät komme, gehe ich automatisch alles durch, was ich vielleicht ausgefressen haben könnte. Ich glaube, dieser Mechanismus ist allen SchülerInnen eingepflanzt. Am Ende der Stunde hatte ich immer noch keinen Schimmer, was los war. Er ließ mich mit zum Rektorat laufen, wo ich dann einen Topf mit einer wunderschönen Orchidee in die Hand bekam: „Ich hatte mich ja eigentlich schon gefreut, dass Sie nicht da waren, dann hätt’ ich die meiner Frau mitgebracht …“ Ich wusste, dass er mich wegen meiner Fragen schätzte, aber so sehr?! Ich hatte immer noch nicht verstanden, als ich endlich die Karte las: „Liebe Olga, nochmals herzlichen Dank für Deine Mitarbeit 7.3 Du hast eine sehr aufgeschlossene Weise, auf Menschen zuzugehen. Darüber haben sich die TänzerInnen aus London besonders gefreut. Einen besonderen Gruß von Ihnen. Für Dich alles Gute.“
(S. 132, a.a.O.) "Lange Spaziergänge halfen ein wenig, vor allem nachts ging ich im Dunkeln um den Aasee. Schließlich: wenn schon am hellen Nachmittag vergewaltigt wurde und kein Mensch der schreienden jungen Frau zu Hilfe kam, konnte ich genauso gut auch nachts spazieren gehen. In einer Zeit, in der auffällig viele Vergewaltigungen in Israel passierten, soll der Vorschlag laut geworden sein, daß Frauen sich nach einer Sperrstunde richten sollten, wonach sie abends und nachts nicht mehr auf die Straße dürften, worauf die Politikerin Golda Meir erwidert habe: "Die Sperrstunde sollte für Männer gelten."* So drehte ich meine Runden und atmete die kühle Luft, als ich hinter mir hörte, wie jemand vom Rad gestiegen war und, es schiebend, hinter mir herlief. Das Klackern der Speichen im Ohr, ging ich mit festem Schritt weiter, ohne meine Geschwindigkeit zu verändern. Ich hab es überhaupt nicht eingesehen, weswegen ich jetzt Angst haben oder gar welche zeigen sollte. Ich wollte schließlich spazieren gehen und meine Ruhe haben. Und damit basta. Er kam neben mich: "Hast Du gar keine Angst?" ich ging im selben Tempo weiter: "Wieso? Sollte ich?" Ein "ganz normaler" Student, mit dem ich mich dann "ganz normal" unterhielt, der offensichtlich "ganz normale" (?!) Gedanken hegte ... Jede 4. Frau im Alter zwischen 17 und 20 Jahren wurde bereits einmal unter Einsatz oder Androhung von körperlicher Gewalt zu sexuellen Handlungen gezwungen.** "Sexuelle Aggressivität zwischen Jugendlichen", Prof. Krahé Universität Potsdam, November 1997 * Diese Anekdote ist mir mehrfach zu Ohren gekommen. Leider konnte ich sie mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln bisher nicht verifizieren, gebe sie aber dennoch wieder, da sie einen grundsätzlichen Denkfehler, nicht nur von Männern, illustriert, und ich zuversichtlich davon ausgehe, daß Golda Meir nichts dagegen hätte, in dieser Weise zitiert zu werden. ** Amerikanische Studien bestätigen, daß jede vierte Studentin vergewaltigt wurde oder einen Vergewaltigungsversuch erlebte. UN-Veröffentlichung: "The World’s Women 1995. Trends and Statistics, S. 160
(S. 209, a.a.O.) "Eines Tages, strahlender Sonnenschein, der gar nicht wirklich bis zu mir durchdrang, blauleuchtendes Becken und gepflegte Rasenfläche, wurde ich im Freibad Zeugin einer Szene: Ein Paar war mit einem kleinen Kind da, sie mag vielleicht sechs gewesen sein. Als die beiden Erwachsenen aufbrechen wollten, fing die Kleine an zu toben und wollte sich partout nicht anziehen. Die Frau ging schon, während der Mann versuchte, die Junge auf dem Boden festzuhalten, damit er sie anziehen konnte. Dabei schlug er freudig auf sie ein. Plötzlich griff er ihr ins Haar und zog sie – an ihrem Haar! – in den Stand. Sie schrie nun erst recht vor Schmerz. Und ich hielt es nicht mehr aus: Ich stand auf und fragte erregt auf französisch, ob es ihm denn auch gefallen würde, am Haar in den Stand gezogen zu werden? "Wenn Sie sie die ganze Zeit hätten, würden Sie das auch machen. Ich geb‘ Sie Ihnen gerne mal eine Woche ab, dann werden Sie ja sehen." "Kein Problem", sagte ich, "Ich habe Zeit. Das können wir gerne machen." Er murmelte irgendwas, ohne mir nochmal in die Augen zu schauen. Als ich gegangen war, funktionierte es plötzlich, sie anzuziehen, ohne in einer Tour zu schlagen – obwohl sie immer noch bleiben wollte und während sie zappelte. Das Schlimmste für mich waren ihre Augen. Ich sah ihr in die Augen – und ich sah mich als Kind: Sie war so überrascht, daß jemand Partei für sie ergriff, konnte es kaum fassen. Wenigstens wußte sie nun, daß ihre Wahrnehmung stimmt: Schläge sind nicht okay! Sie wußte es vorher schon, aber jetzt konnte sie sich sicher sein, daß nicht sie verrückt ist, sondern die (meisten) anderen. Es waren noch jede Menge anderer Leute da, die durch das Geschrei des Kindes aufmerksam geworden waren, aber nach kurzem Aufblicken hatten sie sich wieder, genervt über den Lärm, weggedreht. Natürlich muß das Kind in solch einer "gleichgültigen" Umgebung denken, daß es an ihr liegt, wenn sie Schläge nicht normal findet. Ich ekelte mich vor all diesen Menschen. Menschen, die sich nie angesprochen fühlen, nie Rückgrat zeigen, die ihr Leben verbrachten, wie die drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. "Man mischt sich nicht in and’rer Leute Familienangelegenheiten ein", sagte der Kinder-/Schläger zum Kinder-/Vergewaltiger, der nickte. |