Unerträgliche Einsamkeit
"Ich wollt' ich wär' die Letzte" von Olga Masur: ein authentischer, offener und bissiger Bericht über Kindesvergewaltigung von KRISTINA BOTHA
Das Licht spiegelte sich in kleinen Seen auf dem Linoleumfußboden wider, auf dem mir meine Mutter entgegenkam. Ich war entsetzt, ich hatte gedacht, ich sei sie endlich los. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch keine drei Jahre alt und bereits seit rund zwei Jahren regelmäßig sexueller Gewalt durch meine Eltern ausgesetzt. Bewußt im heutigen Sinn war mir das damals nicht, oder zumindest nicht immer - das Bewußtsein schafft sich Ebenen neben der Realität, wenn diese unerträglich ist." Dergestalt beginnt Olga Masur ihren authentischen, unglaublichen offenen Bericht über ihren eigenen Lebens- und Leidensweg. Streng chronologisch vorgehend schildert sie zunächst ihre Kindheit, wobei ihr die Tatsache, daß sie sie in der Sprache eines Kindes beschreibt, hilft, deutlich zu machen, was genau sie damals fühlte: die unglaubliche Einsamkeit eines Kindes, das nicht weiß, an wen es sich wenden soll, das unerträgliche Gefühl des Verlassenseins, das Kleinsein an sich. Olga Masurs weiteres Leben ist beherrscht von psychischen und auch körperlichen Problemen. Doch sie jammert und klagt nicht darüber. Sie klagt an. Bissig und sarkastisch bringt sie die Dinge auf den Punkt. Ihre eigenen Aussagen unterstreicht bzw. ergänzt sie durch statistisches Zahlenmaterial, wissenschaftliche Forschungsergebnisse und interessante Zeitungsmeldungen, die den gesellschaftlichen Zusammenhang des Verbrechens Kindesmißbrauch deutlich machen, so daß das Buch "Ich wollt' ich wär' die Letzte" nicht bloß Autobiographie, sondern auch eine Dokumentation ist. Seit 1993 lebt die 1970 geborene Autorin in Hamburg. "Hamburg war die erste Stadt, in der ich mich 'richtig' fühlte", schreibt sie. Und: "Der Hafen ist phantastisch!" Mit dem Buch wird sie kein Geld verdienen, allein die Veröffentlichung hat sie dem glücklichen Umstand zu verdanken, daß Jan Philipp Reemtsma, der auf Anhieb von dem Manuskript überzeugt war, den Druck finanzierte. "Selbst, wenn ich alle Exemplare verkaufe, habe ich gerade die Druckkosten wieder drin. Und die gebe ich natürlich zurück", sagt sie. Aber sie ist froh, daß alle Rechte für das Buch bei ihr liegen. Ihr Anliegen ist sowieso nicht der finanzielle Vorteil, sondern daß sie - wie der Titel schon sagt - die Letzte ist, die leiden muß. Daß das wahrscheinlich - leider - utopisch ist, weiß sie selbst. Doch wenn nur einem Mädchen durch das Buch geholfen wird, hat sie ihr Ziel, zumindest ein stückweit, erreicht. Olga Masur: "Ich wollt' ich wär' die Letzte - Kindesvergewaltigung und die Zeit danach. Ein authentischer Bericht", Hamburg 1998, ISBN 3-00-002574-X "Das geheimste Verbrechen" Interview mit der Autorin Olga Masur
Bereits im August 1998 erschien ihr Buch "Ich wollt' ich wär' die Letzte", ein überaus offener authentischer Bericht über Kindesvergewaltigung und die vielen Probleme, die in der Zeit danach daraus resultieren. Mit der Hamburger Rundschau sprach Olga Masur nun über das Buch, ihre Erfahrungen und den zur Zeit am Hamburger Familiengericht laufenden Prozess Hamburger Rundschau: Wie lange hast Du an Deinem - sehr persönlichen - Buch "Ich wollt' ich wär' die Letzte" geschrieben? Olga Masur: Für meine eigene Geschichte habe ich etwa ein halbes Jahr gebraucht, für die Einschübe, die Quellen, mußte ich natürlich einiges nachrecherchieren. Insgesamt hat es maximal ein Jahr gedauert. Rundschau: Hat Deine Familie mittlerweile von dem Buch Kenntnis genommen? Masur: Nein. Ich habe sie nicht darüber informiert, das war für mich nicht notwendig. Selbst wenn sie es lesen: Klüger werden die dadurch nicht. Das Buch soll anderen Menschen etwas bringen. Aber wenn sie es erfahren, ist es auch okay. Rundschau: Hast Du eine Vorstellung davon, wie sie reagieren, falls sie von dem Buch erfahren? Masur: Darüber, wie sie reagieren würden, mache ich mir eigentlich keine großen Gedanken. Ich könnte mir aber vorstellen, daß ich einen Haufen Briefe bekomme, und daß sie vielleicht versuchen werden, zu klagen. Aber ihre Namen sind ja nicht erwähnt. Sie könnten sich im Grunde beruhigt zurücklehnen. Rundschau: Sie haben sich aber sehr aufgeregt, als Du Deinen Nachnamen geändert hast. Masur: Das auf jeden Fall! Weil damit ist ihnen ja was genommen worden, insbesondere meinem Vater. Rundschau: Ihr Eigentum. Masur: Genau. Ihr Eigentum hat sich selbständig gemacht. Rundschau: Du hast geschrieben, daß Du - zumindest teilweise - die Gedanken anderer Leute lesen kannst. Was genau meinst Du damit? Masur: Gestern bin ich zum Beispiel mit dem Nachtbus gefahren, die Bank hinter mir war frei. Dann hat sich dort jemand hingesetzt, und ich wußte in dem Moment, daß es gleich ungemütlich wird. Ich habe diesen Menschen nicht mal gesehen. Der Typ beugt sich vor und begann, immer heftiger zu atmen. Ich hab' mich dann weggesetzt und konnte von hinten beobachten, wie er sich einen abwichst, während sein Bekannter meine Reaktion beobachtete. Die haben da so eine richtige kleine Session gemacht. Rundschau: Im Nachtbus? Masur: Im Nachtbus. - Das meine ich zum Beispiel: Ich weiß schon vorher, was passieren wird. Rundschau: Glaubst Du, daß permanentes Leiden einen derart sensibel macht, die Antennen dermaßen schult, daß man solch eine feine Intuition bekommt? Daß man aus Angst vieles schon ahnt? Masur: Ich denke, das hat etwas miteinander zutun. Man ist ja ständig in Alarmbereitschaft. Rundschau: Hast Du auch Vorahnungen? Ich meine das jetzt nicht esoterisch. Masur: Also, mit diesem Zusatz (lacht), würde ich das schon bejahen. Die Vorahnungen sind einfach da, ich bin insgesamt sehr, sehr wach. Das ist sowieso eine ganz interessante Sache: Man sagt ja immer, Frauen haben eine bessere Intuition als Männer, und man hat herausgefunden, daß eine gute Intuition daher kommt, daß man sehr viele Informationen in einem relativ kurzen Zeitraum aufnehmen und speichern kann. Mit anderen Worten ist Intuition Aufmerksamkeit, Intelligenz und Merkfähigkeit. Man könnte auch sagen, Frauen sind eventuell intelligenter als Männer (lacht). Rundschau: Was ich persönlich schön an dem Buch fand, ist, daß Du Dich oft - wo es gerechtfertigt ist - mit viel Humor über Männer lustig machst, ohne explizit gegen sie zu wettern. Hast Du nicht mittlerweile, aus Deiner Geschichte heraus, eine richtige Abneigung gegenüber Männern? Masur: Naja, wenn ich solch einem Exibitionisten begegne, dann habe ich an diesem Tag keine Lust mehr, auch nur mit irgendeinem Mann zu sprechen. Ansonsten kenne ich soviele idiotische Frauen, daß ich nicht von einem ausgesprochenen Männerhaß reden würde. Was stimmt, ist, daß ich bei Männern Angst empfinden kann, was bei Frauen nicht der Fall ist. Wobei ich es unglaublich finde, daß Frauen vor Männern Angst haben müssen... Wenn eine Frau dämlich ist, hab' ich davon in der Regel kein blaues Auge, wenn aber ein Mann ein übler Typ ist, kann das ganz andere Formen annehmen. Rundschau: Frauen werden aber manchmal - wie Du es ja in Deinem Buch beschreibst - auch zu Mittäterinnen dieser furchtbaren Männer, indem sie sie unterstützen. Warum machen die das Deiner Meinung nach? Weil sie von den Männern abhängig sind? Masur: Tja, diese Frage wird von Feministinnen seit eh und je gestellt. Ich selbst denke, viele erlernte Unfähigkeiten, emotionale und schlicht auch finanzielle Abhängigkeit spielen damit hinein. Ob ich einen Job bekomme oder nicht, hängt nicht unbedingt von meiner Qualifikation ab, sondern - immer noch - eventuell auch vom Geschlecht. Männer besitzen, wenn auch nicht sexuell, aber in gesellschaftlicher Hinsicht mehr Potenz. Rundschau: Dein Buch ist ein authentischer Bericht, und Du beschreibst Deinen Lebens- und Leidensweg in extrem offener Weise. Deshalb denke ich, daß ich ruhig eine sehr persönliche Frage stellen darf: Hast Du mittlerweile eine Begründung dafür gefunden, warum sich Deine Mutter nicht vor Dich gestellt hat? Man nimmt ja gemeinhin an, daß sich eine Mutter normalerweise immer zuerst vor die Kinder wirft. Masur: Ich vermute, daß sie selbst ähnliche Erfahrungen gemacht hat, ich weiß, daß ich ein ungewolltes Kind war, insbesondere von ihr, und, ja, sie hat einfach für sich selbst diese Entscheidung getroffen. Rundschau: Bist Du dann von ihr noch viel mehr enttäuscht als von Deinem "Vater" (Wenn Sie das Buch lesen, wird klar, warum ich "Vater" und nicht Vater schreibe, Anm. der Autorin)? Masur: Emotional auf jeden Fall. Das hängt einfach damit zusammen, daß sie - wie ich - eine Frau ist. Ursprünglich sollte man dem eigenen Geschlecht doch näher sein. Mein "Vater" ist einfach nur anders, aber meine Mutter ist schließlich eine Frau. Rundschau: Inwiefern hat die Tatsache, daß Du mit solch einem weiblichen Vorbild großgeworden bist, Dein Frauenbild geprägt? Masur: Ich habe zu Frauen nicht mehr Vertrauen als zu Männern, und ich beneide jedes Kind, das eine tolle Mutter hat, eben diese typische Löwenmutter. Da kriege ich innerlich das Heulen. Rundschau: Du hast Dich zunächst einmal, wie man immer sagt, "selbst am Schopf aus dem Sumpf gezogen" und lebst mit Deinen furchtbaren Erfahrungen. Glaubst Du, daß sexueller Mißbrauch, der in der Kindheit stattgefunden hat, überhaupt überwindbar ist? Masur: Ich selbst bin einfach immer weiter gegangen. Und je weiter man von den Tätern weg ist, desto mehr Stärke baut man für sich selbst wieder auf. Ich wollte nicht versumpfen, ich wollte nicht, ohne zu kämpfen, alles wegwerfen. Das gönne ich diesen Leuten auch gar nicht. Ich kann meine Erlebnisse zwar nicht löschen, wie bei einem Computer, aber ich kann das Programm umschreiben. Und ich denke schon, daß ich mein Leben, so wie ich es möchte, leben könnte. Im Moment sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, das ist mir klar, doch ich finde nicht, daß man durch solche Erfahrungen an Charakter verliert. Rundschau: Ist es Dir wichtig, etwas über den laufenden Prozeß zu sagen? Masur: Im Moment läuft ein Prozeß vorm Familiengericht in Hamburg, der läuft nach dem seit Juli 1998 geänderten Kindschaftsrecht. Ich habe aber schon vorher geklagt, als das alte Kindschaftsrecht noch gültig war. Mit dem neuen Kindschaftsrecht ist die Position des Kindes sehr viel besser - was ich jedoch überhaupt nicht zu spüren bekomme. Ich bin mit den gleichen Reaktionen konfrontiert wie damals. Für mich ist es sehr belastend, daß das Ganze so lange dauert, zwei Monate lang ist jetzt wieder gar nichts passiert. Rundschau: In dem Prozeß geht es ja nicht mehr um das eigentliche Verbrechen. Kann man diesen Mann nicht irgendwie zur Rechenschaft ziehen? Masur: Es werden Leute eingesperrt, weil sie schwarzfahren oder so etwas in der Art. Aber Kindesmißbrauch ist unglaublich schwer nachzuweisen, es ist das geheimste Verbrechen, das am leichtesten auszuführende, das mit der geringsten Wahrscheinlichkeit, daß es tatsächlich bestraft wird. Die Fragen stellte Kristina Botha. Hamburger Rundschau vom 17. Juni 1999
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