Inzest und die Zeit danach Das Erlebte bleibt ein Leben lang präsent. Die Erinnerungen sind unauslöschbar, eingebrannt in die Seele. Ein Inzestopfer berichtet über seine traumatische Kindheit. Eine Kindheit, die keine war. von SIBYLLE BASSLER
"Zuerst war da das Gefühl, dass mir so furchtbar heiß war. [...] Wie ich da raus kam, weiß ich nicht mehr, ich war ohnmächtig geworden." (Auszug aus dem Buch "Ich wollt', ich wär' die Letzte" von Olga Masur) S. Bassler: "Frau Masur, was empfinden Sie, wenn Sie den Text lesen?" O.Masur: "Während ich lese, versuche ich, ihn nicht wahrzunehmen." S.Bassler: "Sie lesen jetzt nicht mehr ... ?" O.Masur: "Es ist nach wie vor unvorstellbar - auch für mich. Und ich muß mir auch jetzt immer wieder vergegenwärtigen, in welcher Form ich mich erinnert habe: mit den Gerüchen, mit den Geräuschen, mit den körperlichen Empfindungen - mit allem, was die Situation komplett machte." Es hat lange gedauert, bis die heute 29-Jährige ihre Wut und Verzweiflung in Worte fassen konnte. Entstanden ist eine erschütternde Autobiographie, angereichert durch wissenschaftliche Zahlen und Fakten. In ihrem Buch "Ich wollt' ich wär' die Letzte" hat Olga Masur den Inzest ud seine lebenslangen Folgen auf beklemmende Weise geschildert. Fragen über Fragen. Doch eine taucht nicht auf. Die Frage nach dem Warum. Warum ihre Eltern ihr diese angetan haben: "Es interessiert mich einen Scheiß! Es hat mich auch nicht zu interessieren. Ich möchte keine Energie darauf verschwenden, zu verstehen, warum. Es wäre mir lieber gewesen, wenn nicht." Hat sie sich je gefragt, warum ihre Mutter ihr nicht geholfen hat? "Ich habe mir diese Frage sehr, sehr spät gestellt. Einfach, weil ich irgendwie immer davon ausging: irgendwann hilft sie mir. Es war nicht begreiflich, daß sie es nicht tut: sie ist ja meine Mutter!" Zu ihren Eltern hat Olga keinen Kontakt mehr. Auf eine Anklage hat sie verzichtet. Denn die Chance einer Verurteilung, so ihre Anwälte, sei äußerst gering. Ihr Glaube an Gerechtigkeit ist tief erschüttert. Seit damals, als ihre Seele und ihr Körper durch die Eltern zerstört wurden: "Vertrauen, Vertrauen in alles und jedes. Die Dinge sind für mich nicht so, wie sie sind. Ich frage mich sofort: Gibt es einen Grund? Gibt es einen Pferdefuß, einen Haken? Warum tut jemand sowas? Vertrauen auf der ganzen Linie", das fehlt ihr heute völlig. Der Verlust des Vertrauens ist nur eine der vielen Wunden, die nie verheilen:"Ich habe massive körperliche Nachwirkungen. Aber selbst wenn ich die jetzt nicht sichtbar hätte: Der Körper erinnert sich. Das heißt, daß ich meine Haut nicht als etwas Heiles empfinden kann, was es ja damals auch nicht bleiben dürfte. Das heißt, daß ich Alpträume hatte, daß ich Panikattacken hatte, daß ich nachts oft nicht schlafen konnte, keine Luft bekomme. Viele Dinge sind auch subtil, die zusätzlich präsent sind - Selbstzerstörung auf verschiedenen Ebenen." Trotz allem zu leben, zu überleben und sich nicht aufzugeben - hierbei hat Olga einzig ihr starker Wille geholfen. Ein Überlebenswille, der auch das kleine Mädchen gerettet hatte. "Im Grunde war es meine Sturheit. Dieses Wissen: Es geht anders, und ich will es anders. Und, ja: sich eben nicht zufrieden zu geben! Ich kann jetzt noch nicht sagen, ob mein Weg nun der Beste war. Ich weiß auch nicht, ob der Weg für andere ein guter wäre - das möcht' ich gar nicht sagen. Ich finde es nur furchtbar, wenn man sich zufrieden gibt, bevor man am Ende ist." Nicht schweigen und nicht verdrängen war und ist für Olga Masur der einzige Weg, um nicht als hilfloses Opfer zu enden. Ein langer Weg, den sie alleine gehen muss. Denn für eine Beziehung, so sagt sie, sei die Zeit einfach noch nicht reif: "Also im Moment klammere ich das eher aus, weil ich - auch aufgrund von körperlichen Nachwirkungen - sehr neben mir stehen würde." In ihrer momentanen Situation lässt sich nichts planen, findet sie, und so lässt sie die Dinge auf sich zukommen: "Das, was mir sehr viel geben würde, wäre, wenn dieses Ziel: 'Ich wollt' ich wär' die Letzte' einfach mehr und mehr verwirklicht würde." "Ich kann nichts vergeben, das mir etwas nahm, wovon ich gar nicht weiß, was es ist, und das ich nie wieder bekommen kann: meine Kindheit. Ich werde nie wissen, wie ich eigentlich bin, wie ich eigentlich hätte sein können, wie das ist, einfach nur zu leben, ohne solche Erinnerungen. Es ist nicht zu ermessen, was eine verloren hat, wenn sie es nie hatte. Es ist hart, um etwas zu trauern, das nie existierte." aus dem Buch "Ich wollt', ich wär' die Letzte" von Olga Masur)
Der Text auf der ML-Homepage unterscheidet sich vom hier wiedergegebenen, weil ich den tatsächlich gesendeten Text hier aufgeführt habe. Es hat sich dort außerdem ein Fehler eingeschlichen: Ich sagte "verschwenden", nicht "verwenden").
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